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zum Wildbach, zu den Bären, zu den Himbeeren.
Während ich
dies schreibe, verdaue ich das Bärenfleisch. Dazu gab`s Brot, frische Milch ab
Kuh, Bier aus Timisoara, Himbeeren und TV-Fussball.
Die
Szenenwechsel sind der Motor des Reisens.
Heute Morgen
stand das Rolling sweet home noch beim Zirkus-Eingang. Ich hörte die
Brüllattacken der Löwen und schaute beim Kaffee-Trinken dem Kamel beim Dastehen zu. Jetzt begleitet
das Rauschen des Bergbachs die Stille rundherum.
Der Abschied
von den Zirkusmenschen dauert und ist sehr herzlich. Und diesmal definitiv. Es
ruft der Berg – der Karpatenberg.
Die Fahrt
durch die Ebene der Kornfelder ist heiss. Später kurvt die Strasse steil hinauf
durch Tannenwälder. Nach einer ersten Passhöhe verschlechtert sich der Zustand
der Strasse. In einer Kurve steht ein Schild: Camping 800m. Der Weg führt
hinunter und wird immer schmaler. Schritttempo und Zentimeterarbeit sind
angesagt.
Mitica freut
sich über den exotischen Besuch und zeigt mir, wo auf der Wiese ich mich
hinstellen könnte. Am besten ganz unten, direkt an die Bergbach-beach. Dorina,
seine Frau, macht gleich einen Kaffee und betont, dass a) ihr Mann zu viel
trinke und zu viel rede, und dass b) sie hier die Chefin („sefa“) sei. Wie sie
denn aussehe mit ihren 50 Jahren, will sie wissen. Nicht das Aussehen, sondern
wie er schmecke, sei beim Kaffee wichtig, antworte ich. Ob er mir denn
schmecke, fragt sie zurück, „und du bist still!“, sagt sie zu ihrem Mann, „eu
sunt sefa!“
Und jetzt
müsse sie die Hühner einsperren, es habe viele Füchse hier. Und Wölfe. „Und
Bären?“ Sicher. Während Holland immer noch 0 : 1 zurück liegt gegen Mexiko,
wird mir ein Holzbrett mit Bärenfleisch vorgesetzt. Garniert mit Himbeeren. Und
garniert mit Mitica`s lautem Reden über Gott und den Glauben. Ohne hätten wir
ja Anarchie. Er möchte, dass Mexiko gewinnt. „Dumne ajute“ – Gott möge helfen.
Doch Holland schiesst das Ausgleichstor und gewinnt am Schluss mit 2 : 1.
Gottes Prüfungen sind hart. Ich wage einen kritischen Einwand. Und erhalte
postwendend den Gottesbeweis: Gott habe eben nicht gewollt, dass Mexiko gewinnt
– ergo: Gott existiert.
Ich bin
bekehrt: Gott hat gewollt, dass ich heute zum ersten Mal im Leben Bärenfleisch
esse. Und es hat sehr gut geschmeckt!
Am nächsten
Tag erkundige ich die Umgebung. Ich bin Kurgast der Gemeinde Lepsa. Scheint ein
Zwillingsort einer argentinischen Comuna zu sein, denn ein Tag vor dem
Achtelfinal Schweiz – Argentinien ist das blau-weisse Fan-Lokal herausgeputzt
und voller Ikonen.
Zwei Fans erzählen
mir aufgeregt, sie hätten noch Tickets für den Match bekommen. Jetzt warten sie
ungeduldig auf den verspäteten Kleinbus, der sie nach Bukarest zum Flughafen
bringen soll.
Sonst ist
das Dorf ruhig. Sehr ruhig. Die alten Häuser sind schön, und bei den neuen
steht „Pensiunea“ angeschrieben. Mit verheissungsvollen Namen: Venus, Bianca,
Madona, Tresor, Monte Carlo. Man wartet auf den touristischen Exzess. Aber wer
Geld hat, kommt nicht hierhin oder trinkt höchstens ein Bier oder einen Kaffee
beim Vorbeigehen. Vor dem Magazin mixt sitzen zwei mit Bierflasche im Schatten.
Ein Mädchen läuft der Strasse entlang. Auf der anderen Strassenseite lümmelt
ein Hund vorbei. Das Warten in den kurzen Schatten, die die Sonne wirft. „Spiel
mir das Lied vom Tod.“ Nur wird hier kein Zug ankommen, aus dem der Gangster
aussteigt, mit dem man noch eine alte Rechnung offen hat. Die Rechnungen sind
neu, und die Gangster nicht greifbar. Es ist ruhig und friedlich. Rundherum
strahlen die Berge.
Mitica
bringt mir eine „ciorba“, eine Gemüsesuppe. Dorina hat eine Antwort darauf:
Zehn Minuten später wieselt sie mit einem Schüsselchen fein zubereiteter Pilze
daher. Und nimmt gleich Platz im Caravan. „Dorina“, ist das nicht das
Sonnenblumenöl vom Coop? Später darf ich sie fotografieren. Sie sei doch zu
wenig „frumoasa“, meint sie, öffnet ihr Haar und steckt sich eine Sonnenbrille
auf. Und dann noch ein Bild von ihr und mir, meint ihr Mann.
Ich fahre
zum 20 km entfernten Soveja (sprich: „Sowesch“). Am Fusse des Passes steht, die
Strasse sei geschlossen. Der Grund wird mir nach wenigen Kilometern klar: der
Zustand der Strasse. Aber ohne Anhänger geht`s, und es wird zu einem lonesome
ride durch das steile Waldgebiet des östlichen Karpatenbogens.
Soveja ist
ein sauber herausgeputztes Dorf, das von der andern Seite her gut erreichbar
ist. Frei laufende Pferde, eine Schar Gänse und alte Frauen mit langen Röcken
und den üblichen umgebundenen Kopftüchern sind die einzigen Zeugen von Lebendigkeit.
Einige der im Wildwest-Stil erbauten Häuser sind zum Verkauf angeschrieben. Am
oberen Dorfende öffnet sich ein grosser, leerer Platz, an dem sich ein
futuristisch verfallenes Restaurant, ein ebenso verfallenes
Weiss-nicht-wozu-Gebäude und ein Zur-Zeit-ausser-Betrieb-Souvenirladen
befinden. Ein grosszügiger und friedlicher Platz, für Menschen gemacht – nur
ist keiner da.
Auf dem
Campingplatz sind wir jetzt zu dritt – drei Parteien , drei soziale Schichten.
Wie verteilt man neun Personen auf 30 m2 Wohnfläche? Die einfache Familie mit
zwei herangewachsenen Söhnen und Tochter erhält ein knapp 4 m2 kleines
Iglu-Zelt (und hat zusätzlich den japspanischen Kleinstkleinwagen). Der junge,
gut ausgebildete Papi mit Anstellung bei der Militärpolizei hat für sich, seine
Frau und den Sprössling einen 10 m2-Wohnwagen (importiert aus den NL), und der
Schweizer Frühpensionär logiert in einem 16 m2 mobile home.
Ob ich denn
nie ein schlechtes oder wie auch immer Gefühl habe, in Ländern wie Rumänien mit
einem solchen Gefährt vorzufahren, werde ich in der CH manchmal gefragt.
Bemerkenswert ist, dass dies oft die gleichen Leute sind, die fragen, ob ich
denn keine Angst habe, hier allein unterwegs zu sein… Angst? Vor den Räubern,
Einbrechern und Mördern? Was steckt für eine Haltung hinter der Frage nach dem
Angst-haben? Ich bin inzwischen, beide Reisen zusammengezählt, fünf Monate in
Rumänien unterwegs gewesen, in leeren nächtlichen Strassen, in belebten Orten
und im abgelegenen Nowhere-land. Fazit: 3x überfallen, 4x ausgeraubt, 5x
erpresst, 6x sexuell missbraucht und 99x beschissen! Weil die Menschen hier
nichts anderes kennen. Nein, nix dergleichen.
Differenzierter
ist die Frage, ob ich mich über die Ungerechtigkeiten ärgere oder ob sie mich
traurig machen. Nein, ich werde nicht wütend und auch nicht traurig, wenn ich
viele „ärgerliche“ Dinge sehe oder live miterlebe. Aber es berührt mich
natürlich. Und ich muss klar kommen mit meiner Rolle: Ich bin ein Reicher, ich
bin ein Abgesicherter, ich bin (halt irgendwie auch) ein Voyeur. Aber ich bin
kein tumber Tourist, weil ich mich einlasse auf das Normale und auf alle
Menschen, wenn sie nicht grad offensichtliche Arschlöcher sind. Und ich treffe
auf viel Gutes, eigentlich auf das, was ich im normal swiss life vermisse: Zeit
und Gastfreundschaft. Und wenn ich spüre, dass ich für offene oder eigentlich
offene Menschen eine Bereicherung bin (Eigenlob ist sonst nur in der Werbung
und im Nationalismus erlaubt), und mir diese Menschen auch sagen warum, dann
fühle ich mich „richtig“ hier. Sie sind ja für mich auch eine Bereicherung. Das
soll weder überheblich, noch christlich demütig klingen. I just feel alive.
Mit dieser
Haltung gelingt es mir, auch Bedrückendes aufzunehmen. Simpel gesagt: Was nützt
mir (und den andern!) Ärger oder Verzweiflung? Was nützt Distanz? Ich bin
Reisender, und nicht Tourist. Die Eiserne Regel ist: Nimm dir Zeit, bleibe
länger, lass dich ein, sei authentisch. Und dankbar.