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Montag, 30. Juni 2014

Von den Zirkuslöwen zu den Himbären

. . . zum Wildbach, zu den Bären, zu den Himbeeren.




Während ich dies schreibe, verdaue ich das Bärenfleisch. Dazu gab`s Brot, frische Milch ab Kuh, Bier aus Timisoara, Himbeeren und TV-Fussball.

Die Szenenwechsel sind der Motor des Reisens.

Heute Morgen stand das Rolling sweet home noch beim Zirkus-Eingang. Ich hörte die Brüllattacken der Löwen und schaute beim Kaffee-Trinken  dem Kamel beim Dastehen zu. Jetzt begleitet das Rauschen des Bergbachs die Stille rundherum.


Der Abschied von den Zirkusmenschen dauert und ist sehr herzlich. Und diesmal definitiv. Es ruft der Berg – der Karpatenberg.
Die Fahrt durch die Ebene der Kornfelder ist heiss. Später kurvt die Strasse steil hinauf durch Tannenwälder. Nach einer ersten Passhöhe verschlechtert sich der Zustand der Strasse. In einer Kurve steht ein Schild: Camping 800m. Der Weg führt hinunter und wird immer schmaler. Schritttempo und Zentimeterarbeit sind angesagt.


Mitica freut sich über den exotischen Besuch und zeigt mir, wo auf der Wiese ich mich hinstellen könnte. Am besten ganz unten, direkt an die Bergbach-beach. Dorina, seine Frau, macht gleich einen Kaffee und betont, dass a) ihr Mann zu viel trinke und zu viel rede, und dass b) sie hier die Chefin („sefa“) sei. Wie sie denn aussehe mit ihren 50 Jahren, will sie wissen. Nicht das Aussehen, sondern wie er schmecke, sei beim Kaffee wichtig, antworte ich. Ob er mir denn schmecke, fragt sie zurück, „und du bist still!“, sagt sie zu ihrem Mann, „eu sunt sefa!“
Und jetzt müsse sie die Hühner einsperren, es habe viele Füchse hier. Und Wölfe. „Und Bären?“ Sicher. Während Holland immer noch 0 : 1 zurück liegt gegen Mexiko, wird mir ein Holzbrett mit Bärenfleisch vorgesetzt. Garniert mit Himbeeren. Und garniert mit Mitica`s lautem Reden über Gott und den Glauben. Ohne hätten wir ja Anarchie. Er möchte, dass Mexiko gewinnt. „Dumne ajute“ – Gott möge helfen. Doch Holland schiesst das Ausgleichstor und gewinnt am Schluss mit 2 : 1. Gottes Prüfungen sind hart. Ich wage einen kritischen Einwand. Und erhalte postwendend den Gottesbeweis: Gott habe eben nicht gewollt, dass Mexiko gewinnt – ergo: Gott existiert.
Ich bin bekehrt: Gott hat gewollt, dass ich heute zum ersten Mal im Leben Bärenfleisch esse. Und es hat sehr gut geschmeckt!




Am nächsten Tag erkundige ich die Umgebung. Ich bin Kurgast der Gemeinde Lepsa. Scheint ein Zwillingsort einer argentinischen Comuna zu sein, denn ein Tag vor dem Achtelfinal Schweiz – Argentinien ist das blau-weisse Fan-Lokal herausgeputzt und voller Ikonen.
Zwei Fans erzählen mir aufgeregt, sie hätten noch Tickets für den Match bekommen. Jetzt warten sie ungeduldig auf den verspäteten Kleinbus, der sie nach Bukarest zum Flughafen bringen soll.

  

Sonst ist das Dorf ruhig. Sehr ruhig. Die alten Häuser sind schön, und bei den neuen steht „Pensiunea“ angeschrieben. Mit verheissungsvollen Namen: Venus, Bianca, Madona, Tresor, Monte Carlo. Man wartet auf den touristischen Exzess. Aber wer Geld hat, kommt nicht hierhin oder trinkt höchstens ein Bier oder einen Kaffee beim Vorbeigehen. Vor dem Magazin mixt sitzen zwei mit Bierflasche im Schatten. Ein Mädchen läuft der Strasse entlang. Auf der anderen Strassenseite lümmelt ein Hund vorbei. Das Warten in den kurzen Schatten, die die Sonne wirft. „Spiel mir das Lied vom Tod.“ Nur wird hier kein Zug ankommen, aus dem der Gangster aussteigt, mit dem man noch eine alte Rechnung offen hat. Die Rechnungen sind neu, und die Gangster nicht greifbar. Es ist ruhig und friedlich. Rundherum strahlen die Berge.

  


Mitica bringt mir eine „ciorba“, eine Gemüsesuppe. Dorina hat eine Antwort darauf: Zehn Minuten später wieselt sie mit einem Schüsselchen fein zubereiteter Pilze daher. Und nimmt gleich Platz im Caravan. „Dorina“, ist das nicht das Sonnenblumenöl vom Coop? Später darf ich sie fotografieren. Sie sei doch zu wenig „frumoasa“, meint sie, öffnet ihr Haar und steckt sich eine Sonnenbrille auf. Und dann noch ein Bild von ihr und mir, meint ihr Mann.


Ich fahre zum 20 km entfernten Soveja (sprich: „Sowesch“). Am Fusse des Passes steht, die Strasse sei geschlossen. Der Grund wird mir nach wenigen Kilometern klar: der Zustand der Strasse. Aber ohne Anhänger geht`s, und es wird zu einem lonesome ride durch das steile Waldgebiet des östlichen Karpatenbogens.




Soveja ist ein sauber herausgeputztes Dorf, das von der andern Seite her gut erreichbar ist. Frei laufende Pferde, eine Schar Gänse und alte Frauen mit langen Röcken und den üblichen umgebundenen Kopftüchern sind die einzigen Zeugen von Lebendigkeit. Einige der im Wildwest-Stil erbauten Häuser sind zum Verkauf angeschrieben. Am oberen Dorfende öffnet sich ein grosser, leerer Platz, an dem sich ein futuristisch verfallenes Restaurant, ein ebenso verfallenes Weiss-nicht-wozu-Gebäude und ein Zur-Zeit-ausser-Betrieb-Souvenirladen befinden. Ein grosszügiger und friedlicher Platz, für Menschen gemacht – nur ist keiner da.





Auf dem Campingplatz sind wir jetzt zu dritt – drei Parteien , drei soziale Schichten. Wie verteilt man neun Personen auf 30 m2 Wohnfläche? Die einfache Familie mit zwei herangewachsenen Söhnen und Tochter erhält ein knapp 4 m2 kleines Iglu-Zelt (und hat zusätzlich den japspanischen Kleinstkleinwagen). Der junge, gut ausgebildete Papi mit Anstellung bei der Militärpolizei hat für sich, seine Frau und den Sprössling einen 10 m2-Wohnwagen (importiert aus den NL), und der Schweizer Frühpensionär logiert in einem 16 m2 mobile home.

Ob ich denn nie ein schlechtes oder wie auch immer Gefühl habe, in Ländern wie Rumänien mit einem solchen Gefährt vorzufahren, werde ich in der CH manchmal gefragt. Bemerkenswert ist, dass dies oft die gleichen Leute sind, die fragen, ob ich denn keine Angst habe, hier allein unterwegs zu sein… Angst? Vor den Räubern, Einbrechern und Mördern? Was steckt für eine Haltung hinter der Frage nach dem Angst-haben? Ich bin inzwischen, beide Reisen zusammengezählt, fünf Monate in Rumänien unterwegs gewesen, in leeren nächtlichen Strassen, in belebten Orten und im abgelegenen Nowhere-land. Fazit: 3x überfallen, 4x ausgeraubt, 5x erpresst, 6x sexuell missbraucht und 99x beschissen! Weil die Menschen hier nichts anderes kennen. Nein, nix dergleichen.
Differenzierter ist die Frage, ob ich mich über die Ungerechtigkeiten ärgere oder ob sie mich traurig machen. Nein, ich werde nicht wütend und auch nicht traurig, wenn ich viele „ärgerliche“ Dinge sehe oder live miterlebe. Aber es berührt mich natürlich. Und ich muss klar kommen mit meiner Rolle: Ich bin ein Reicher, ich bin ein Abgesicherter, ich bin (halt irgendwie auch) ein Voyeur. Aber ich bin kein tumber Tourist, weil ich mich einlasse auf das Normale und auf alle Menschen, wenn sie nicht grad offensichtliche Arschlöcher sind. Und ich treffe auf viel Gutes, eigentlich auf das, was ich im normal swiss life vermisse: Zeit und Gastfreundschaft. Und wenn ich spüre, dass ich für offene oder eigentlich offene Menschen eine Bereicherung bin (Eigenlob ist sonst nur in der Werbung und im Nationalismus erlaubt), und mir diese Menschen auch sagen warum, dann fühle ich mich „richtig“ hier. Sie sind ja für mich auch eine Bereicherung. Das soll weder überheblich, noch christlich demütig klingen. I just feel alive.
Mit dieser Haltung gelingt es mir, auch Bedrückendes aufzunehmen. Simpel gesagt: Was nützt mir (und den andern!) Ärger oder Verzweiflung? Was nützt Distanz? Ich bin Reisender, und nicht Tourist. Die Eiserne Regel ist: Nimm dir Zeit, bleibe länger, lass dich ein, sei authentisch. Und dankbar.