Alle
Farben leuchten für alle. Spazieren ist gratis.
Es ist
Sonntag Abend. Das Volk tummelt sich züchtig im Zentrum der Stadt, die darum
eine Stadt ist, weil sich hier viele Leute tummeln. Allerdings tummeln sie sich
nur am Sonntag. An den andern Tagen haben sie im besseren Fall anderes und im
schlechteren Fall nichts zu tun.
Solche Orte,
die die Bezeichnung „Stadt“ der zugewanderten Industrie, der daraus
resultierenden Geburtenrate und einer „Statt-Planung“ verdanken, sind wohl
weltweit der grösste Jagdgrund der heutigen Menschheit. Entsprechend fällt die
Beute aus: Blockwohnung, Supermarkt, Auto und Kinderspielplatz. Und deren
Qualität, bzw. Offensichtlichkeit der Bedrückung, also deren Lebensqualität (um
ein gängiges Wort neu aufzuzäumen) hängt dann wiederum davon ab, ob wir uns in
Kolumbien, Rumänien oder der Schweiz befinden.
Wenn es die
Stadtväter gut meinen – und hier in Mioveni haben sie es gut gemeint, zusammen
mit der gütigen Mithilfe der ansässigen französischen Auto- und
Autozubehörwerke – dann wird das Zentrum klotzig aufgemöbelt. Es entsteht – da
müssen doch früher Häuser gestanden haben? – eine grossflächige, mehrteilige
Verkehrsinsel, ein Verkehrsinsel-Atoll gewissermassen. Mit viel Grün. Für alle.
Die Kirche wird zur Kathedrale hochgepusht und die goldbedachten Kuppeln zeugen
von der Herrlichkeit des Himmels und der Renault-Dacia-Werke. Auf der andern
Seite (Insel-Hüpfen gehört zum modernen Tourismus) befindet sich das neu
erbaute Gemeindehaus, das zusammen mit dem dazugehörigen, weiten Vorplatz den
Charme und die Behaglichkeit eines Flugzeugträgers ausstrahlt. Nur – und das
muss die rot-grüne Fraktion im Stadtparlament durchgedrückt haben – werden
Flugzeuglandungen dadurch verunmöglicht, dass mitten auf diesem Platz
pazifistische Fontänen aus dem Boden schiessen. Des Sonntagabends nun leuchten
diese Wasserstrahlen abwechselnd in allen Farben, und dahinter glitzern gülden
die beleuchteten Dacia-Gottes-Werke. Für alle gratis.
Solche
Statt-Orte werfen ihre Geschichten auf. Unzählige. Oft gleich gestrickte.
Und manchmal
wird eine davon an einen herangetragen:
Mein Name ist Bianca
Ich bin 22
Jahre alt. Ich arbeite in einem Salon für erotische Massagen. Ich würde gerne
andere Länder sehen, aber ich kann nicht weg, weil ich zu meinem 14-jährigen
Bruder schaue. Meine Mutter ist nach Spanien gegangen, um dort Arbeit zu
finden. Ich habe wenig Kontakt zu ihr und weiss nicht, wo genau sie lebt. Mein
Vater lebt nicht mehr. Er hat sich vor sieben Jahren erhängt. Ich bin froh,
dass mein Bruder keine Probleme macht und gut lernt in der Schule.
Mein Name ist Cosmin
Ich bin 28
Jahre alt. Ich bin verheiratet und habe eine 5-jährige Tochter. Wir leben in
einem Dorf, wo viele keine Arbeit und kein Geld haben und neidisch sind, wenn
jemand etwas hat. Letztes Jahr habe ich meine Arbeit bei einem Alteisenhändler
verloren, weil er mir den Lohn nicht mehr bezahlen konnte. Seither haben wir
oft nichts mehr zu essen im Haus. Vor zwei Monaten habe ich mich auf ein
Inserat gemeldet, in dem ein Chauffeur für einen Kleintransporter gesucht
wurde. Schon am nächsten Tag konnte ich beginnen. Die Aufträge führten mich im
ganzen Land herum. Ich war glücklich. Nachdem mir der Chef nach zwei Monaten
den abgemachten Lohn immer noch nicht bezahlt, sondern mir nur 500 Lei gegeben
hat, bin ich nicht mehr hingegangen. Aber jetzt habe ich schon eine neue Stelle
als Chauffeur gefunden. Hier werde ich 1000 Euro im Monat verdienen (das ist
viel mehr als in Rumänien üblich), denn es ist eine internationale Firma, und
ich werde in Spanien, Frankreich und Portugal unterwegs sein. Am Montag erhalte
ich das Auto und muss gleich nach Lissabon fahren. Der Chef hat mir eine Karte
für Benzin gegeben und gesagt, ich dürfe keine Autobahnen benützen. Er hat mir
empfohlen ein GPS zu kaufen, aber ich habe ja kein Geld dafür und auch nicht
für Strassenkarten. Ich weiss schon, welchen Weg ich nehmen muss: Budapest –
Wien – Deutschland – Paris – Madrid. Er hat mir noch 50 Euro gegeben, damit ich
unterwegs etwas zu essen kaufen kann. Am Flughafen von Lissabon erhalte ich dann
einen neuen Auftrag. Einen Teil meines ersten Lohnes werde ich dann dem Roten
Kreuz geben, weil ich andern helfen möchte. Ich bin schon ein bisschen nervös.
Mein Name ist John
Ich bin 30
Jahre alt. Meine Mutter war nicht gut zu mir, und meinen Vater habe ich nie
gesehen. Wenn ich Geld hätte, würde ich nach Bukarest gehen und herausfinden
lassen, wo er ist. Ich möchte ihn unbedingt kennen lernen.
Vor ein paar
Jahren habe ich meine Lebensgeschichte niedergeschrieben. Ich habe sie dann in
einen Umschlag gesteckt und diesen zugeklebt.
Er kramt das Couvert aus seinen
Siebensachen, reisst es auf und gibt mir fünf handschriftlich verfasste Seiten zu lesen. Einige Auszüge daraus auf
Deutsch:
„Ich möchte
hier meine Lebensgeschichte erzählen, die keine gute ist, sondern für mich zu
einem Albtraum geworden ist und mich in grosse Verzweiflung gebracht hat.
Ich heisse
John S. und habe zwei Geburtsdaten: 24.05.1984 und 29.12. 1985.
Meine Eltern
haben sich scheiden lassen, als ich zwei Jahre alt war. Ich habe vier
Geschwister, die irgendwo leben und zwei Geschwister, die tot sind, weil sie
von der stark alkoholsüchtigen Mutter vernachlässigt worden sind.
Als ich etwa
ein halbes Jahr alt war, hat mich meine Mutter so stark geschlagen, dass der
Kiefer zertrümmert war. Ich weiss nicht, warum sie es getan hat.
Mein Vater
hat mich ins Kinderspital gebracht.
Nachher kam
ich in ein Waisenhaus. Dort waren wir 130 kleine und grosse Kinder. Ich wurde
oft von den Grossen geschlagen. Den Kleinen wurde mit Schlägen gedroht, wenn
wir ihnen nicht Geschenke machten (z.B. zu Weihnacht) oder ihnen Geld gaben.
Ich verstand das alles nicht, denn wir sollten doch wie Brüder sein und uns
lieben, so wie Gott es möchte.
Im Jahr 2000
kam ich ins „Centru de plasament“. Hier wurde das Leben etwas besser. Aber bald
hatte ich eine Krankheit. Beim Hände oder Füsse Waschen fiel die Haut ab. Ich
erhielt Calcium, aber viel zu viel, so dass ich blau wurde und die Wirbelsäule
angegriffen wurde.
Ich wurde in
ein Spital gebracht und man diagnostizierte eine Wirbelsäulenkrankheit. Mein
Fall wurde im Fernsehen publik gemacht. Dadurch war eine Operation möglich.
Danach sollte ich mich sechs Monate erholen. Aber wo?
Ich ging zu
der Mutter. Sie stellte mich aber nach einem Monat auf die Strasse, weil ich
mich immer nach meinen Geschwistern, nach dem Grossvater und nach dem Namen des
Vaters erkundigte.
(Bis heute
möchte ich meine drei Brüder sehen und meine Schwester, die nach Kanada
verkauft worden ist.)
Ich ging zu
Fuss und ohne Geld in die nächste Stadt, von wo aus mich ein Kondukteur gratis
nach T.G. fahren liess, wo ich Obdach im Centru de plasement suchte. Ich wurde
abgewiesen, aber ein Angestellter versteckte mich dort für einige Zeit und
brachte mir jeweils etwas Brot. Es war Winter und ich schlief ohne Decke auf
dem Boden.
„Dumnezeu
iti da, dar nu iti baga si in traista.“ (Gott gibt dir, aber er steckt es dir nicht in die Tasche.) Ich versuchte, in verschiedenen Häusern gegen
Arbeit Unterschlupf und etwas zu essen zu erhalten. Einmal ging ich zu einer
Kirche und konnte im Kirchenchor mitsingen. Ich fror viel, und es war mir so
elend, dass ich daran dachte mich aufzuhängen. Aber ich schaffte es irgendwie,
über den Winter zu kommen.“
Jetzt
erhalte ich eine kleine Invaliden-Pension. Aber der, der mir dazu verholfen
hat, bewahrt das Geld für mich auf und hat mir noch nie etwas davon gegeben. Ich
frage mich, ob das eine Hilfe ist!
Gabis fucking place
My name is Gabriel – Gabi. I am best
mechanic here. Come, look! Here I have … (Er zeigt viele Plastikeimer und Kartonschachteln, die mit Schrauben,
Schraubenmuttern, speziellen Werkzeugen, Bremsbelägen und … und … gefüllt
sind.) Am tot, I have all,
for all cars. I fuck everything. I fuck you, when you want. You know, aici nu
este Romania, this is not Romania here, this is fucking place! This man is my
helper, este nebun, stii, he is crazy man, he fucks his cat, but good man.
Und er ist wirklich gut. Er spricht mit
seinen Motörli, hört ihnen aufmerksam zu, kriecht förmlich in sie hinein,
braucht gar die Zunge um etwas zu testen, spuckt aus und sagt – ja, was denn? –
Fuck you! -But you see, acum merge, it works! I fuck every car. Seine Frau sitzt unter der Traubenpergola, lächelt herüber und zieht an ihrer Marlboro. –
Ach, mein Gabi, ist halt ein glatter Hund…
Ob ich mitkommen wolle zum Picknick am
Sonntag Nachmittag. Er hat nicht „fucking picnic“ gesagt.
Vielen Dank für die Reparatur meines Generators.