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Sonntag, 18. Mai 2014

Georgi, McDonalds, Zirkus

Er heisst Georgi. Als er 18 war, heiratete er.
Wie üblich, ein Mädchen aus dem Dorf. Georgi war sexuell neugierig. Und aktiv. Zehn Jahre später hatte er sechs Kinder. Aber bald keine Frau mehr. „A plecat.“ Sie ist gegangen. Sie habe jetzt einen andern. Der habe ein bisschen Geld. Georgi hat gar keines. Doch: Fr. 1.50 im Tag. Wenn er Glück hat und ein Auto anhält um einen seiner selbstgemachten Reisigbesen zu kaufen. Gerade hat der Regen nachgelassen. Die Sonne kommt kurz hervor. Georgi steht immer da am Strassenrand. Seine Mutter schaue zu den Kindern. Wenn ein Auto vorbeifährt, weist er mit einer sanften Handbewegung auf seine Besen. Georgi spricht klar und deutlich. Und emotionslos. Er ist jetzt 30. – Ein Liter Milch kostet Fr. 1.50, aber im kleinen Dorfladen gibt es gar keine.


                                                                                             
Am Abend erreiche ich Galati. Anfangs Donau-Mündung. Wie letztes Jahr. Da ich mich auskenne, peile ich den grossen Parkplatz an, an dessen Anfang der McDonalds steht. Bei ihm gibt`s Mc free Net und einen Burger für 10 Lei. Ich rechne um: 10 Lei sind 2 Georgi-Besen. Wenn also Georgi seine sechs Kinder in den McDonalds einlädt, kostet das ihn 12 Besen. Ohne Getränke. Dafür gibt`s je einen Kinderplastikscheiss gratis. Anyway, Georgi, binde Besen! Auch ein paar für dich. Dann kannst du dir Leim kaufen. Und aus dem Plastiksäckli sniffen. Aber nicht im McDonalds, erst nachher. – Georgi, ich weiss, dass du das nicht tun würdest. Oh Georgi…

Lei sind Löwen. Übersetzt. Löwen liegen faul herum. Manchmal brüllen sie. Weil das Herumliegen langweilig ist. Im zu kleinen Käfig.



Die Überraschung: Auf einem Teil des Platzes steht ein Zirkus. Und ich mit dem Rolling sweet home gleich daneben. Ich höre und sehe die Löwen. Und die quietschenden Reifen der McDrive-Gockel. Dazu Zirkusmusik.
Wer liest das über die Strasse gespannte Wahl-Transparent? „Wir sind alle Rumänen! Wir gehören zu Europa!“
Georgi, geh wählen! „Wir sind McRomani!“

Victor ist der mühsamste von allen. Er ist nur halbwegs bei der Sache im Training der jungen Lei. Er will oft nicht auf das Podiümli hocken. Und wenn er mal drauf ist, wendet er sich ab und schaut, was hinter ihm ist. So erhält er eben selten einen Bissen Fleisch. Scheint ihm egal zu sein. Victor ist schwererziehbar. Aber er ist integriert in die Gruppe. Der Dompteur kümmert sich doppelt so stark um ihn wie um die andern. Doch das ist ihm auch egal. Zusammengepfercht im zu engen Käfig, aber alle schön zusammen. Victor weiss nicht, dass dies die angesagte Sparpädagogik ist. Einen McPäda für Victor!



Ob ich mich nicht ganz zu ihnen hinstellen wolle, fragt Alexander, dann könne ich ihre Wasser- und Stromanschlüsse mitbenutzen. Und hier sei noch ein Gratiseintritt für mich. Alexander und sein Zwillingsbruder sind die Söhne des Zirkusvaters, welcher als einziger von allen keinen Enthusiasmus ausstrahlt. Er sei gebrochen, seit er seit einem Unfall nicht mehr auftreten könne. Was er aber empfindet, ist Genugtuung, da seine Söhne (und auch bereits deren Kinder) nichts anderes tun wollen. 


Alexander hat es mal als Lastwagenfahrer versucht, aber wie soll man dabei Freude und Lebendigkeit spüren? Die Frau des Bruders sei gegangen, das kleine Söhnchen aber wollte bei Papi bleiben und wirft diesem in der Vorstellung die Ringe und Keulen zu. Monica begeisterte sich eines Tages für den Zirkus inkl. Alexander und tritt unter anderem als Trapezkünstlerin auf. Dem kleinen Alexander, 8-jährig, hat man auch schon ein farbiges Gwändli genäht für seine zwei Nummern. Man müsse die Kleinen einfach machen lassen. (Nur Victor, der junge Löwe, möchte nicht.  – Ob er lieber Lastwagenchauffeur wäre?)

Alexander und Monica:




John, einer der rumänischen Arbeiter, ist auf seine Art mit ganzem Herzen dabei. Er liebt das Lama und das Kamel, für die er zu sorgen hat. Er ist zärtlich zu ihnen und weiss, was sie gerade spüren oder denken. Bei ihnen im Zelt hat er sich seine Schlafecke eingerichtet. Und genau in dieser Ecke hat es am meisten Fliegen. Sind es die Bierflaschen, die sie anziehen? Im kleinen Radiöli hat John gehört, dass es wichtig sei, täglich genug Flüssigkeit zu konsumieren. Also hält er sich dran. Im selben Radio, erzählt er mir, habe er gehört, dass die Menschen in der Schweiz über einen garantierten Mindestlohn entscheiden konnten. Er hätte „Ja“ gestimmt.


Der Grossvater des Fakirs sei Schweizer gewesen und habe Hausmann geheissen. Aus Zürich oder in der Nähe. Oder Basel. Er hat keine Zähne mehr, aber er ist hart, wenn es um Feuer, Nägel oder Scherben geht. Grosse Schlangen sind kein Problem. Das kleine Krokodil auch nicht. Aber das Kätzchen, das nach der Vorstellung an seinem Wohnwagen vorbeischleicht, löst bei ihm einen Anfall aus: „Da, eine Katze, bringt sie weg! Dort ist sie!“ Seine Partnerin, noch immer in voller Schminke, beruhigt den Hustenden und Niesenden. „War doch nur ein kleines Büsi.“


Fakir Hausmann und seine Frau warten auf ihre Einsätze


More backstage:




Very backstage:


Später am Abend gibt`s Gegrilltes und Gebrautes für alle. Nicht zu knapp. Ob er sich ihnen nicht anschliessen wolle, wird der Schweizer Reisende gefragt. Warum nicht? Mit meiner Kontorsionsnummer: Wie bringe ich die Socken, wenn ich sie anziehen will, zu den Füssen? Und die Füsse zu den Socken…

Als ich zu Bett gehe, tutet noch ein SMS herein. „Nu avem paine si nici salam si nici legume. Anca plange. Nu avem bani. Avem foame. Cosmin“ – Nichts zu essen – kein Geld – Anca weint.


Ein kleiner Ausflug über die Grenze bei Galati nach Moldawien. Die Strassengebühr muss mit moldawischen Lei bezahlt werden. Man wechselt gegen „harte“ rumänische Lei. Es kostet wenig.


Ich fahre in ein Dorf und werde alt-sowjetisch begrüsst:



Jesus und Gänse gibt es in jedem Dorf:



Ein Grossvater hat für seine Enkelkinder einen Spielplatz erstellt:



Am nächsten Tag mache ich in Galati Wellness. Auf dem hohen Funkturm hat es ein Restaurant mit Aussicht (natürlich) und auch mit grossem Angebot: Pui de balta – Froschschenkel, Muschi de vita – nein, das heisst Rindsfilet, und als Ehrerweisung an die vielen Zuhälter dieses Landes hat es 24 verschiedene Preparate din peste – Peste nennt man die Zuhälter, bedeutet aber eigentlich Fisch.


Am Fusse des Turmes beginnen sich Girls zu versammeln. Für die Schulschlussfeier. Viele „pulpa de fata…“


Zurück nach Hause. Zum gelben, runden „M“:


Diese Hochzeit hat vor zwei Jahren stattgefunden:


Kurz danach kam Rebecca, das Töchterchen:


Cristi, der Papi, arbeitet beim Zirkus. Die Familie lebt in einem engen, fensterlosen Teil des Kassen-Anhängers. Mit Mihai, einem weiteren Arbeiter:


Beim Training mit den jungen Löwen:


Die Fleischstücke zur Belohnung werden nebendran laufend geschnitten. „Muschi“ natürlich, für die Lei:


Amy reicht sie durchs Gitter weiter. Wer ist Amy? Zu wem gehört sie? Was hat sie für eine Funktion im Zirkus?


John hat heute ohne Schutzbrille geschweisst:


Eating out im Fastfood-Lokal.



Mihai rollt den “r” beim Sprechen stärker als die Löwen mit ihrem Gebrrrrüll: „I want worrrk in cirrrcus in Frrrance orr Gerrrmany. Best countrrry forrr me is Switzerrrland.“


Eigentlich war mit der Stadt abgemacht, dass der Zirkus heute die letzten Vorstellungen gibt und morgen Sonntag das Areal verlassen haben muss.  Am Mittag kommt die zuständige Stadträtin um zu veranlassen, dass jetzt sogleich abgebrochen wird. Der Platz werde für eine Veranstaltung in Zusammenhang mit den Europa-Wahlen gebraucht. Ab Montag sei er wieder frei. Also wird jetzt alles eingepackt und verladen, dann zieht man 200 Meter weiter, und am Montag darf man dafür alles für ein paar weitere Tage wieder aufstellen. Der Conférencier flucht, alle Politik sei „bullshit“, und die Stadträtin beteuert, sie tue nur ihre Pflicht. Alexander nimmt`s gelassen: Normalerweise koste ein Ab- und Aufbau viel Geld, weil er mit einer langen Fahrt aller Fahrzeuge verbunden sei. „Aber jetzt gratis!“
Der Schweizer Caravan muss auch weg. Hätte sich doch gut gemacht, mitten im Europa-Wahlfestrummel ein CH-Caravan. „Grüsse aus der deutschen der französischen, der italienischen und der rätoromanischen Schweiz hier nach Galati und nach ganz Europa!“ Urbi et orbi!


Richtigstellung heute Sonntag: Der Platz wurde für nichts benutzt. Er musste einfach leer sein. Leer und gross und sauber. Würdig für die Stimmabgabe im Allzweck-Kulturhaus dahinter.