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Montag, 12. Mai 2014

Vieros . . .

Wieder im Land der 1000 Möglichkeiten
Reduziert auf zwei: Friss (unverschämt) oder stirb (täglich). - Ich bin in Rumänien. 
In Ruse (BG) noch volltanken für Fr. 1.30 der Liter. Eine Brücke führt über die Donau nach Giurgiu (RO). Geld wechseln und Rovinieta (Strassengebühr) kaufen – ich bin legalisiert.


Ein paar km landeinwärts finde ich einen Übernachtungsplatz, leicht erhöht mit Blick auf Wiesen, Felder und die Donau. Eine kleine Quelle sprudelt aus dem Wiesenbord, ein Mann hütet seine Ziegen, und weiter oben steht eine zerfallene Fabrikanlage. Dort wohne er, erklärt der Mann. Eine Fabrikloft im Grünen und gratis. Bei uns gesucht und teuer. Vielleicht nicht mit eingeschlagenen Fenstern und dem ganzen Katastrophen-Groove. Ja, sunt aici – ich bin da, im Land der 1000 Möglichkeiten…
Am nächsten Tag fahre ich ins "auserwählte" Dorf in der Nähe der Stadt Pitesti – nach Vieros. (Anca, Cosmin, Loredana – vgl. Rumänien-Bericht von 2013)
Was hat sich verändert? – Allenfalls, wer jetzt mit wem Streit hat. Was ist unverändert? – Der von jedem einzelnen täglich geführte Überlebenskampf. Meist in der Freestyle-Variante "Jeder gegen jeden". 
Cosmins Bruder und dessen 18-jährige Ehefrau wohnen nicht mehr nebenan beim Vater. Streitereien wegen Geld natürlich, der Vater schlägt den Sohn – und tschüss. Wohin? Drei Häuser weiter zu ihren Eltern. Vor seinem Auszug hat er noch das Stromverbindungskabel zu Cosmins Haus gekappt, weil dieser seinen Anteil an der Stromrechnung nicht zahlen konnte. Gute Nacht. Der Vater selber ist Polizist. Bzw. er war es. Jetzt ist er tschüss und freigestellt. Er spricht leicht lallig und stotternd. Denn der Schnaps bleibt gut. Das 90-jährige Mütterchen/Grossmütterchen/Urgrossmütterchen sitzt zehn Meter entfernt in seinem armseligen Häuschen auf dem Bett, lässt die Beinchen baumeln und erklärt mir in zahnlosem Rumänisch, dass sie von einem der obgenannten Herren geschlagen worden sei und dass jetzt keiner mehr bei ihr vorbeischaue. Sie hockt da, ein Bett mit farbig gemusterten Decken und Kissen, eine Kommode, ein Herd, alles auf 3 x 3 Metern, schattenseitig, mit Blick aus der offenen Tür auf das doch stattlichere Haus ihres Schnaps trinkenden Polizisten-Sohnes, den sie vor fünfzig Jahren an ihrer Brust gehabt hat. „So ist das Leben - Asa este viata", sagt sie, aber schlagen dürfe man sie nicht.
Anca, das herzige Töchterchen von Cosmin und Loredana, ist seit zwei Wochen nicht mehr im Kindergarten gewesen. Ist sie krank? Nein, aber sie könnten ihr kein Wurstbrot mitgeben, und das müsse man.

Ich bin mit dem rolling home wieder auf demselben Hügel zwischen Friedhof und Kirche wie letztes Jahr.



Neu sind, wenn ich herunter schaue, zwei Dinge: Erstens die Leuchtschrift vor der Kirche, die abends eingeschaltet wird und den Heiligen Jahrmarkt preist und zweitens die neu gestaltete Dorfquelle, wo das Wasser jetzt aus der Röhre fliesst und nicht mehr kübelweise heraufgezogen werden muss. Die erste der beiden Neuerungen liesse sich auch noch zu einer nützlichen umfunktionieren: Leuchtschrift-Strom kappen und ins eigene Haus umleiten. Heaven can pay.



Ein anderer hat das Problem mit dem Bezahlen der aufgelaufenen Stromrechnungen auf irdische Art zu lösen versucht: Er ist zum Mann gegangen, auf dessen Haus – sinnigerweise! – die himmlische Reklame am direktesten leuchtet. Dieser ist so quasi das Kleinkredit-Institut des Dorfes. Konditionen: Schnell und unkompliziert mit monatlich 25% Zins. „Wir sind immer für Sie da“ bekam der Schuldner nach einem Monat zu spüren: Er wurde zusammengeschlagen und war drei Tage im Spital. Der Kleinkreditschläger bleibt unbehelligt. Man versteht sich ja mit den Behörden.

Am nächsten Morgen scheint die Sonne aufs Dorf. Für alle. Als ich an seinem Haus vorbeigehe, ruft mir der Polizisten-Vater zu und deutet stolz auf den vertriebenen Sohn, der verlegen lächelnd und einzugsbereit mit seiner Schulmädchen-Frau an der Haustür steht. Asa este viata.