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Freitag, 13. Juni 2014

Mehr Zirkus (des Lebens)

Stimmt es, was er mir gesagt hat? Der Mann ohne Körper.
Nur ein Kopf, der knapp über dem Gartenzaun empor sah. Wie das Krokodil im Kasperlitheater der Kinder. So spricht er mit mir, ohne Pause, viel mehr als das Krokodil. Er ist, wie viele sind: Einerseits nach westlichem Cültür-Empfinden nicht der Allerhellste, etwas kindlich-naiv, freudig wie der Kasperli, andererseits weiss er über Vieles Bescheid und kann ein bisschen Englisch und Französisch. Alles, auch wie viele andere, vom Fernsehen. (Es gibt ausser den zahlreichen volksverdummenden auch zwei Dok-Sender.) Er weiss nicht nur, wo die beste Schokolade der Welt hergestellt wird, sondern auch, wann welche belgische Königin die Schweiz besuchte. Und eben, dass die rumänischen Banknoten in der Schweiz gedruckt werden. Dann müsste jede 1-Leu-Note, mit der ein Armer ein müdes Weissbrot kauft, und jede der vielen 100-Lei-Noten, die als „spaga“ (Schmiergeld) den Ärzten bezahlt werden müssen, das CH-Armbrust-Qualitätszeichen mit aufgedruckt haben. Ungerechtigkeiten weltweit mit Schweizer Präzisions-Beteiligung, das kennen wir doch.

In Siebenbürgen und im Norden sieht das Land, sehen die Häuser, die Gärten, die Felder viel gepflegter aus als im Süden. Auch die Landschaft, Berge, Täler, Hügel und Wälder sind beeindruckend schön. Dies gilt auch für den Nordosten, den Landesteil Moldova.





Sind die Menschen hier noch freundlicher und offener? Oder liegt der gute Kontakt an meinen zunehmenden Rumänisch-Kenntnissen?
Wo kann ich auf praktische Art den Wassertank füllen? Da fragt man halt mal in einer Kneipe eines Durchfahrtsdorfes. Erfolgreich. Ziehbrunnenschlepp-Aktion einiger Knaben, Diskussion in der Kneipe über Gott und die Welt, Bier trinken („Nein, kein Tuborg, ein einheimisches, bitte!“) Geschenke (Kirschen, Äpfel) entgegennehmen, die betrunkene Alte auf passende Nähe-Distanz halten und zuletzt noch alle guten Wünsche mehrmals austauschen: Sanatate, drum bun, numai bine bis zu viata lunga. Und klar, Rumänien gefällt mir foarte mult. Und für uns ist`s verschissen hier, wird dann oft noch gesagt. Ja, der Spagat zwischen dem Gefühl der Heimat, die dieses wunderbare und von der Natur her reiche Land für die Menschen ist und dem Ärger über die fehlende Aussicht auf eine mehr versprechende Zukunft. „Romania is shit!“



Eine bessere Atmosphäre strahlt Iasi („Iasch“) aus, der Hauptort von Moldova (nix velwechsern mit der Republica Moldova). Diese Atmosphäre hat sicher viel zu tun mit den Universitäten. Man sieht viele junge Menschen, es hat Strassencafés, Kinos, gute Buchhandlungen, Antiquariate, und es strahlt auch Ruhe aus, nicht nur das Städte-übliche Run-for-your-life.






Mein romanian phone klingelte: „Hello Chrrristoph, I am Mihai frrrom the cirrrcus, wherrre arrre you? We arrre in Pechea (schade – kein rrr drin!). Einer der Zirkus-Arbeiter. Das passt zu meinem Plan. Ich fahre Rrrichtung Galati, wieder mal.
100 km Hauptstrasse. Ich denke während des Fahrens an zwei Dinge:
Erstens an die Verkehrssicherheit. Es ist gefährlich auf Rumäniens Strassen, sagt die mitteleuropäische Wahrnehmung. Oft schlechter Strassenzustand, keine Trottoirs innerorts, am Strassenrand gehende Menschen, Schlangenlinie fahrende Velos, Pferdefuhrwerke auch im Dunkeln ohne Licht, viel zu langsame alte und viel zu schnelle protzige Autos, Lastwagen in oft zweifelhaftem Zustand. Und trotzdem: Es funktioniert. Das Free-style-System scheint nicht zu mehr Unfällen zu führen als unser überreguliertes. Auf meinen mehreren tausend Kilometern on the road habe ich noch keinen Unfall gesehen.
Zweitens warte ich auf die Gelegenheit, ein schönes Föteli von einem der unzähligen Strassenverkaufsstände zu machen. Da wird die Ware auf einem kleinen Tischchen (oder auch ohne) präsentiert. Drei Gläser Honig, ein Körbchen Kirschen oder Erdbeeren, ein Kohl, Knoblauch, Kartoffeln usw. Konkret heisst das, ein Mann oder eine Frau sitzt einen Tag lang an der Strasse auf einem Hocker und wartet auf den erlösenden Käufer. Noch konkreter: Tausende von Menschen hocken täglich hinter sieben Zwiebeln, innerorts und ausserorts, bei jedem Wetter, und starren vor sich hin.

Nun war`s soweit: Eingangs eines Dorfes eine aufgeregte Menschentraube, Hände in die Luft werfende und kreischende Weiber, ein Lastwagen halb im Strassengraben, ein umgestürztes Holzgestell, rundherum alles rot von Kirschen, und mittendrin, regungslos auf dem Bauch liegend, ein toter Mann. Was empfinde ich? – Es ist die Hoffnung dieses Mannes, mit der er sich am Morgen an die Strasse gesetzt und auf die paar Lei Tagesverdienst gewartet hat. Und es ist der Schmerz und die Verzweiflung seiner neben ihm auf den Boden spuckenden Frau, die das Holzgestell reparieren und das kleine Häufchen Früchte oder Gemüse fortan allein verkaufen wird.
 
Pechea, ein Ort, einfach ein Ort, bestehend aus einer langen Durchgangsstrasse, einer Kreuzung, die so etwas wie das Zentrum markiert, wo es zwei Läden, eine low-class-Kneipe und eine upper-low-class-Pizzeria hat, weiter oben die Schule, daneben eine schmale Zufahrt zum Stadion: Ein schlechter Fussballplatz mit ein paar Betonstufen auf einer Seite, quasi als VIP-Loge. Platz für 22 Fussballer oder für einen mittelgrossen Zirkus.  
Das Zelt ist abgebrochen, die drei Vorstellungen sind absolviert, jetzt drei Tage frei oder warten oder Füdeli sünnelen (die Schlangenfrau), also ein Fussballplatz ohne das tragende Mittelfeld, nur mit Wohnwagen, gelangweilten Kamelen, dummen Ponies, kläffenden Hunden und depressiven Löwen auf den Aussenbahnen und in der Verteidigung. Es ist sehr heiss. Dann kommt er, plötzlich ist er da, der böenartige Wind, der dem Gewitter vorausgeht. Er wirbelt nicht nur den Staub im Strafraum auf, sondern die Beschaulichkeit der ganzen Szenerie. Seitenklappe des Löwenwagens schliessen, kleines Kamel- und Lamazelt abbrechen, Ponies einsammeln, die Tiere in die Anhänger verladen, Sonnenvordächer einrollen, das Äffchen von seinem Freilaufpflock in den Plastik-Hunde-Reise-Käfig verpflanzen, die Schlangenfrau zieht ein Höschen übers Füdeli und verzieht sich mit den zwei Zwerghündchen in den Wohnwagen zu den andern Plüsch-Tierchen.


Der Regen danach – halb so wild – Schwein gehabt. Doch die Kamel-, Äffli- und alle Füdeli bleiben in ihren Boxen.
Am nächsten Tag wird ausgeschlafen. Nur die Löwen halten sich nicht an die allgemeine Ruhe. Später kriege ich Geschichten erzählt.
Der Kamel-boy, der sich immer für seinen Gestank entschuldigt (zu Recht), will Hebräisch lernen und nach Israel auswandern, weil ihm eine Stimme immer sage, dort sei seine Zukunft. Wenn ich ihm etwas zu essen anbiete, nimmt er es lieber für „my animals“ als für sich selber. Er könne nicht mehr alles kauen, weil sein Kiefer und sein Mund zertrümmert gewesen seien. Seine Mutter habe ihn mit zwei Jahren übel hergerichtet. Er sei ihr nicht böse, sie sei eben Alkoholikerin gewesen und überfordert mit ihm. Später habe der Vater, der Polizist gewesen sei, die Mutter in eine Entzugsanstalt gebracht, und die ältere Schwester habe Geld für seine Kieferoperation aus Kanada geschickt. Wichtig sei das Herz, nicht der Kopf, hat er im Leben gelernt. Eine Frau zu haben, kann er sich nicht richtig vorstellen. Er habe und liebe ja seine „animali“. Und täglich ein paar Bierchen. Schlafen kann er maximal drei Stunden. Wegen den „animali“, sagt er. Und am Schluss: „Thank you very much, Mister Christopher, for talking to me.“
Die andere Geschichte gibt`s so oft wie Zugpannen in Italien. Fast jeder hat eine zu erzählen:
Mihai hat vier Jahre bei einem Zirkus in Frankreich gearbeitet. Für mehr als 1000 Euro monatlich! Dabei hat er einen entscheidenden (rumänischen) Fehler gemacht: Da er, wie die meisten einfachen Leute, kein Bank-Konto hat, hat er das ersparte Geld einem Freund (und es ist in diesen Geschichten immer der beste Freund) nach Rumänien geschickt. Als er zurückkam: „Sorry, hab`s nicht mehr.“ Weg ist weg, da kann man nichts machen.

Nein, Rumänien ist schön. Man könnte zum Beispiel die Hälfte seiner Häuser fotografieren. Und tausend Bildbände damit machen. Farbige! Es herrscht die Freiheit der Farbe. Und ihrer Kombinationen. Anything goes. Wie auch bei den Kleidern. Jedenfalls bei den vom internäschenel geltenden taste nicht heimgesuchten gewöhnlichen Menschen. Frau trägt diesen Sommer rot-blau gestreift zu grün-rosa geblümt. Zu orangen Plastikschuhen empfehlen sich ein weinrot getupfter, langer Jupe und ein worn-out-shirt des TSV Saarbrücken. Socken dazu in braun oder hellgrün. Für den Herrn an Stelle des Jupes eine weisse Sondermüll-Trainingshose mit seitlichen gelb-schwarzen Streifen. Die Farbgebung fürs Haus ist dann vielfältig zu den Kleidern abstimmbar. Passend ist jede Farbabstufung jeder Farbe. Sorgfalt ist beim Anstrich des Zaunes geboten: Unbedingt kräftige Farbtöne verwenden. Der Anstrich des davor stehenden Ziehbrunnens kann, muss aber nicht damit in Dialog treten. Zum Abschmecken nehme man bunte, zum Trocknen aufgehängte Wäsche und eventuell noch die blau-gelb-rote Nationalflagge. (Die EU-Flagge ist ein No-go, diese ist der Fassade des Gemeindehauses vorbehalten.)





   
Der Zirkus Colosseum verschiebt sich 20 km weiter. Auf dem Land kämen mehr Interessierte. Man stellt dann auch nur das kleine Zelt auf, das sich so viel besser füllt. Mal zwei Tage Löwengebrüll ist doch eine Abwechslung zum alltäglichen Pferdehufgeklapper und Hundegebell. Warum die Löwen brüllen, würde ja nur Brigitte Bardot interessieren… Der vom durch die Dörfer fahrenden Lautsprecherwagen angekündigte Clown ist schon vor längerem einer Sparmassnahme geopfert worden. Ob nicht ich etwas in dieser Richtung machen wolle? Ein Quereinsteiger ist something to be. Ich stelle mich vorerst mal auf einer niedrigeren Sprosse zur Verfügung: Als Anhänger schleppender Fahrer des Lautsprecherwagens. Daher kann ich jetzt die „Juhui, der Zirkus ist da!“-Ankündigung fast auswendig. Schulmädchen winken mir zu. What a feeling!
Am Abend bestelle ich mir eine Pizza downtown. Verzierung inklusive.