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Samstag, 19. Juli 2014

Dichtung und Wahrheit

Wenn es für jede Lüge Geld gäbe, wären viele Leute hier reicher.






Das mag hart tönen, ist aber leider so. Es ist auch so, dass tatsächlich viele reicher sind, weil sie lügen. Ich spreche hier nicht von den wirklich Reichen, den Korrupten und Verfilzten, die für ihre Schamlosigkeit nur Verachtung verdienen. Ich rede von den  „gewöhnlichen“ Menschen, die mit Lügen und Bescheissen zu etwas Geld kommen. Ich unterlasse es bewusst, über sie ein moralisches Urteil zu fällen. Denn wie wäre ich, wenn ich 60 Jahre Heilsversprechungen einer zügellosen Diktatur, einer verlogenen Kirche und zuletzt eines skrupellosen Kapitalismus durchlebt  hätte und immer noch in einem aus Pferdemist gebauten Haus leben würde? Wenn ich zwar nicht verhungern würde, aber – verdammt nochmal – wenig und nichts Rechtes zu essen hätte. Voilà. Darum stelle ich nur fest.
Für die Geschichten, die ich bisher erzählt habe, kann ich die Hand nicht ins Feuer legen. Aber ich stelle jeweils schon einige Fragen und rede mit den Leuten, um zu merken, ob ihre Geschichte in die Rubrik „Dichtung“ oder in die Rubrik „Wahrheit“ gehört.
Zur Abwechslung mal etwas aus der Rubrik „Dichtung“: Ich halte an, weil ich neben der Eisenbahnbrücke eine alte, verrostete Dampflok sehe. Dumnezeu, der Herr im Himmel und auf Erden, zaubert ein hübsches Zigeunermädchen aus dem Boden. Es trägt einen farbigen, langen Rock und hat die Haare zu zwei Zöpfen geflochten, so dass es perfekt in einen jener Schweizer Heimatfilme passen würde, in denen schweigend aus klappernden Tellern Suppe gegessen wird. Eher scheu spricht es mich an, und ich weiss, was jetzt kommt: „Viele Geschwister – Hunger und kein Brot – bitte cash – vergelt`s Gott .“ So war`s. Ich frage nach. Das Ergebnis lässt sich sehen: Sie hat kein Zuhause, schläft gleich da unten im Gestrüpp, ist allein und hat niemanden, da alle ihre 14 Geschwister tot sind, und die Eltern grad auch noch. Ich zeige mich beeindruckt, und als ich den Schlafplatz sehen möchte, muss sie plötzlich gehen und sagt noch in leisem Trotz: „Am casa.“ (Ich habe ein Haus.) Kurz danach sehe ich sie mit einem Handy am Ohr den Weg hinunter laufen. 
Tja. Das waren ein Gebüsch und ein paar Tote zuviel. Inzwischen hat ein Dacia neben der alten Lokomotive parkiert. Beides real.

  
Weiss ich genug über die Zigeuner, damit ich über sie und ihre Situation schreiben kann? Nein, ich kann nur alles bestätigen, was über sie gesagt wird. Sie stehlen (einige), sie lügen (einige), sie sind ihren Bossen ausgeliefert (einige), sie sind zu faul um zu arbeiten (einige), sie schicken ihre Kinder nicht zur Schule und lassen sie lieber betteln oder verwahrlosen (einige), sie sind gut und freundlich (einige), sie pflegen eine gute Kultur (einige), sie haben einen schweren Stand in der Gesellschaft (fast alle), sie sind sehr arm (die meisten), sie sind reich (einige wenige), und sie werden von den meisten Rumänen (die sie als „ţigani“ und nicht als Rumänen bezeichnen) verachtet (alle).
Weitere Betrachtungen wären geschichtlicher, ethnischer, gesellschaftlicher und politischer Art und übersteigen die Kompetenz eines einfachen Reisenden mit „Hakle feucht“ und kugelsicherer Kreditkarte im Gepäck.  

Nach der Zigeuner-Heidi – ich will nun eben ein Foto von der alten Dampflok machen – rollt der nächste Überraschungsgast heran. Auf einem Kindervelo. Er kommt gleich auf mich zu, identifiziert mich als ein Chef des Zirkus und erkundigt sich in lupenreinem Berg-Rumänisch, ob es im Zirkus eine Arbeit für ihn gäbe. Er ist ein absoluter Freak. Dazu ein hartnäckiger. Immer wieder stellt er die gleichen Fragen, immer wieder gebe ich die gleichen Antworten. Dazwischen das übliche „Hast du mir eine Cigarette?“.  Ich solle doch ein Foto von ihm machen, meint er – wohl als Visitenkarte für die Zirkus-Bewerbung. Und zwar am liebsten mit Velo. Die Mütze sei übrigens von der ungarischen Armee. „Und die Blume?“, frage ich.